Kleines Senfkorn Hoffnung: Michael Braunold berichtet über seine jüdische Familiengeschichte

04.09.2019 09:40

Von: Matthias Hansen

MIchael Braunold vor dem Denkmal für die deportierten und ermordeten Fuldaer Juden

Familie Braunold um 1930

Die Novemberpogrome vom 9./10. November 1938 gegen die deutsch-jüdische Bevölkerung führten der Weltöffentlichkeit drastisch vor Augen, dass Juden in Deutschland nicht mehr willkommen und der Willkür des Regimes schutzlos ausgeliefert waren. Großbritannien war einer von wenigen Staaten, der auf öffentliche Empörung auch Taten folgen ließ. Im Rahmen des Refugee Children Movement holte die britische Regierung zwischen November 1938 und September 1939 ca. 10.000 Kinder, die als „jüdisch“ im Sinne der Nürnberger Gesetze galten, aus dem Deutschen Reich nach Großbritannien. 

Diesem heute weitgehend unbekannten Akt der Menschlichkeit verdankt Michael Braunold, geboren 1959, sein Leben. Schließlich wäre er nie geboren worden, hätte sich sein Vater, Josef Braunold, nicht dank der „Kindertransporte“ nach Großbritannien retten und so dem Zugriff des antisemitischen NS-Regimes dauerhaft entziehen können. Mit einem Adressbuch, 10 Reichsmark und seinem Reisepass begab sich der 15-jährige Fuldaer, getrennt von seinen Eltern, die er nie wiedersah, auf die Reise in ein fernes Land, in eine neue Zukunft. Dass Josef seinem Sohn Michael auch Jahrzehnte später auf dessen Fragen zu seiner deutsch-jüdischen Vergangenheit und seiner schicksalshaften Reise nach Großbritannien kaum Auskunft gab, zeigt, wie sehr ihn diese Ereignisse aus früher Kindheit und Jugend traumatisiert haben müssen.

Und dennoch: Welch ein Glück sein Vater hatte, einer jener 10.000 Geretteten gewesen zu sein, verdeutlicht Michael in seinem Vortrag anschaulich: Projiziert auf die heutige Zeit, hätten statistisch nur etwa 3 der über 1000 Winfriedschüler eine Ausreisegenehmigung im Rahmen des Refugee Children Movement bekommen. 

Was es bedeutete, als „Rassejude“ dem Regime auch über das Jahr 1939 hinaus ausgeliefert zu sein, schildert Michael anhand seiner Familiengeschichte. Zahlreiche in Deutschland verbliebene Angehörige finden sich in den Todeslisten der Konzentrations- und Vernichtungslager. So wurden Josefs Eltern, Friedrich und Gerda Braunold, im Dezember 1941 aus Fulda ins Rigaer Ghetto deportiert, wo Friedrich 1942 starb. Seine Frau Gerda, Michaels Großmutter, kam 1944 im Konzentrationslager Stutthof (Polen) ums Leben.

Einiger der ermordeten Familienmitglieder aus Mainz und Wertheim wird in Form von Stolpersteinen gedacht. Im Fuldaer Straßenbild finden sich keine Stolpersteine. Die Stadt gedenkt auf andere Weise der Opfer des NS-Regimes. Auf dem Areal der ehemaligen Synagoge, die im Zuge der Pogrome vom 10. November 1938 abgebrannt ist, erinnern Metallbänder namentlich an die 252 deportierten und in Todeslagern ums Leben gekommenen Fuldaer Juden – auch an Friedrich und Gerda Braunold.

Josef Braunold fand in Großbritannien eine neue Heimat. Er heiratete Johanna Ruth Beer, eine ebenfalls über das britische Kinderhilfsprogramm gerettete deutsche Jüdin. Aus ihrer Ehe erwuchsen drei Kinder. Michael ist ihr jüngster Sohn. Würde der 1984 verstorbene Josef heute noch leben, wäre er achtfacher Großvater und fünfzehnfacher Urgroßvater. Nicht nur Josef, sondern auch alle seine Nachkommen verdanken dem Refugee Children Movement ihr Leben. So zeigt die Geschichte der Braunolds eindrucksvoll, wie aus einer vermeintlich kleinen humanitären Geste etwas Großes erwachsen kann. Selten war das biblische Gleichnis vom kleinen Senfkorn Hoffnung (MK 4,30-32) so einsichtig wie durch Michael Braunolds Familiengeschichte – eine Einsicht, die das Schülerauditorium durch humanitäres Denken und Handeln hoffentlich auch in die Gegenwart zu übertragen vermag.



Nach oben